Montag, 29. September 2025

Buchrezension: Jess Kitching - Opfer Nummer 11

Inhalt:

Zehn Jahre ist es her, dass Hannah einem brutalen Serienkiller entkommen konnte. Zehn Jahre, in denen sie sich mühsam ein neues Leben aufgebaut hat. Zehn Jahre, in denen sie versucht hat, mehr zu sein als das "Opfer Nummer 11". Endlich will sie die wöchentlichen Meetings mit der Selbsthilfegruppe hinter sich lassen und mit ihrem Mann einen Neustart wagen. Doch dann verschwinden wieder junge Frauen in dem kleinen englischen Ort. Ihre ausgebluteten Leichen lassen Hannah ihre schlimmsten Ängste wieder durchleben. Sie weiß, der Täter ist eigentlich hinter ihr her. Damals konnte sie überleben - doch reicht ihr Glück auch ein zweites Mal? 

Rezension:

Als Hannah Allen vierzehn Jahre alt war, wurde sie von dem Serienmörder Peter Harris entführt, der so schwer zu fassen war, dass er  in der Öffentlichkeit "Ghost" genannt wurde. Hannah sollte sein elftes Opfer werden, doch sie war die einzige, die überlebte. 
Zehn Jahre später ist Hannah mit einem liebevollen Mann zusammen und möchte nun die Selbsthilfegruppe der "Vertrauensschwestern" quittieren, die dazu beigetragen hat, das Trauma ihrer Vergangenheit zu überwinden. Doch dann verschwinden innerhalb kürzester Zeit mehrere Frauen in dem kleinen Ort. Die Leichen weisen ähnliche Verletzungen wie Peters Opfer auf. Zudem erreichen Hannah Botschaften, die darauf hindeuten, dass jemand Peters Werk fortführt und Hannah in unmittelbarer Gefahr schwebt. Während sich die Presse auf sie stürzt, ist Hannah verängstigt und weiß nicht mehr, wem sie noch trauen kann. 

Der Roman wird überwiegend aus der Ich-Perspektive von Hannah geschildert, wodurch sie sehr nahbar wirkt. Es fällt leicht, sich in sie hineinzuversetzen und ihre Gefühle der Wut und Angst nachvollziehen zu können. Daneben gibt es einzelne Einblicke in die Polizeiarbeit durch den Kommissar Conrad, dem es ein persönliches Anliegen ist, Hannah zu schützen und den Mörder zu fassen. 

Die Geschichte beginnt anfangs gemächlich und erinnert mehr an ein Drama. Hannahs Emotionen und ihr persönliches Schicksal stehen im Vordergrund. Sie kämpft mit der Ungerechtigkeit, die sie erfahren hat und noch immer erfährt und möchte die Opferrolle endlich ablegen. Es wird deutlich, wie schwer ein Neuanfang nach einem solchen Trauma der Entführung und Folter ist, wie schwer es fällt, Vertrauen zu fassen, Beziehungen einzugehen und ein "normales" Leben zu führen. Freunde und Therapie, aber vor allem das Bestärken des Glaubens an sich selbst sind notwendig, wovon Hannah bereits profitiert hat. 

Die Spannung setzt ein, als nach zehn Jahren weitere Frauen Opfer eines Serientäters werden, der als Nachahmer des berüchtigten Peter Harris deklariert wird. Hannahs Ängste sind spürbar und die Gefahr steigt, als der Mörder immer näher kommt. Es hat den Anschein, dass der Mörder aus Hannahs eigenem Umfeld stammt und Peter Harris Tat zu Ende bringen möchte. Wie nah muss Hannah den Täter an sich heranlassen, damit er gefasst werden kann? 

Die Auflösung kann überraschen, ist aber dennoch nachvollziehbar und das Tatmotiv nicht abwegig. Der Showdown ist blutig und typisch für einen Psychothriller. 
Die Geschichte setzt dem Titel entsprechend das Opfer eines Verbrechens in den Vordergrund. Sie handelt von Gewalt gegen Frauen, von sexuellen Übergriffen und den öffentlichen und persönlichen Umgang damit. Während die Polizeiarbeit ein wenig dilettantisch, scheint das Auftreten der Medien und der Einfluss von Social Media realistisch dargestellt. 

Freitag, 26. September 2025

Buchrezension: Jenny Mustard - Beste Zeiten

Inhalt:

Endlich Stockholm! Sickan, 21, hat es rausgeschafft aus dem muffigen Kaff in der schwedischen Provinz, in dem sie sich nie zu Hause gefühlt hat, weg von den mobbenden Klassenkameradinnen und den wenig zugewandten Eltern. Jetzt, in der Großstadt, kann es losgehen mit den Freundschaften, dem Ausgehen, dem Vorlesung-Schwänzen und Sich-Verlieben, denn Sickan ist wild entschlossen, sich in der neuen Stadt neu zu erfinden und endlich dazuzugehören. Aber wie geht das eigentlich genau, das, was man gemeinhin so "Leben" nennt? 

Rezension: 

Sickan zieht zum Studium nach Stockholm - möglichst weit weg von ihrem unterkühlten Elternhaus und dem Mobbing ihrer Mitschüler*innen. In der Großstadt möchte sie ihr altes belastetes Leben hinter sich lassen und sich neu erfinden. Mit der wohlhabenden und selbstbewussten Kommilitonin Hanna findet sie eine Freundin, neben der sie sich selbst nicht mehr so eigenartig vorkommt und mit Abbe die erste Liebe zu einem jungen Mann, mit dem sie eine traumatische Vergangenheit gemein hat.
Endlich geht Sickans Wunsch nach Zugehörigkeit in Erfüllung, während sie ein typisches Studentenleben führt, mit dem sie sich selbst beweist, dass sie nicht seltsam ist.

Der Roman ist aus der Ich-Perspektive von Sickan geschrieben, wodurch sie sehr nahbar ist. Ihre Sorgen und Ängste, die zu Beginn erdrückend sind, sind spürbar. Schwierige Situationen lösen Flashbacks aus, die sie immer wieder gedanklich in die Vergangenheit katapultieren.
Durch die in Teilen erschütternden Erinnerungen kann noch mehr Verständnis für Sickans Handlungen und Verhaltensweisen entwickelt werden.

"Beste Zeiten" schildert Sickans Neuanfang als Studentin, die ihr altes Ich ablegen möchte. Der Roman handelt von Freundschaft, Loyalität und erster Liebe, von einer Suche nach Identität und dem Wunsch nach Zugehörigkeit, aber auch von sozialen Ängsten, Ausgrenzung und Rassismus. Die Entwicklung Sickans ist authentisch und nachvollziehbar dargestellt und problematisiert eine Verunsicherung, die gar nicht "seltsam" ist. 

Mittwoch, 24. September 2025

Buchrezension: Julie von Kessel - Die andern sind das weite Meer

Inhalt:

Familie Cramer droht die Zerreißprobe. Dabei waren sie einst eine Vorzeigefamilie. Ein erfolgreicher Diplomatenvater mit einer schönen Frau und drei wohlgeratenen Kindern. Erst Jahrzehnte später, Mutter Maria ist längst gestorben und die Kinder erwachsen, zeigen sich die Risse im Familienfundament. Und als der Patriarch in eine Demenz schlittert, drohen aus den Rissen einstürzende Wände zu werden.
Luka ist als Fernsehreporterin kaum je zu Hause, Tom mit der Leitung seiner psychiatrischen Klinik beschäftigt, und Elena steigert sich in ihre Jugendliebe hinein, weil sie vor einer unangenehmen Wahrheit die Augen verschließt.
In dem Glauben, von den anderen nicht verstanden zu werden, trägt jeder sein eigenes Päckchen – bis der Vater spurlos verschwindet. 

Rezension:

Hans Cramer ist pensionierter Diplomat, der allein in Bonn wohnt. Er ist an Demenz erkrankt und wird zunehmend hilfsbedürftiger. Seine drei erwachsenen Kinder sind mit ihren eigenen Problemen beschäftigt und kümmern sich nur halbherzig aus der Distanz um den strengen Vater, der immer nur mit seiner ältesten Tochter Luka zufrieden war.
Luka ist Kriegsberichterstatterin und derzeit für ihren Sender in der Ukraine. Nach einem folgenschweren Fehler muss sie zurück nach Deutschland.
Tom ist Psychiater und hat eine eigene Klinik am Wannsee aufgebaut. Mit über 40 Jahren leidet er immer noch unter der fehlenden Anerkennung seines Vaters und nimmt regelmäßige an dubiosen Seminaren mit halluzinogenen Substanzen teil, die Heilung für seelische und körperliche Leiden versprechen.
Elena ist wie ihre verstorbene Mutter an Brustkrebs erkrankt und in ihrer Beziehung zu Juan, mit dem sie eine gemeinsame Tochter hat, unglücklich. Sie flüchtet sich in Träumereien an ihre Jugendliebe Moritz.

Als ihr Vater Hans verschwindet, kommen die Geschwister in ihrem Elternhaus zusammen und beginnen, sich ihren Ängsten zu stellen und finden in der Gemeinschaft Halt, ihre Probleme anzugehen.
Die Geschichte wird abwechselnd aus der Perspektive einer der vier Hauptfiguren geschildert. Allen ist gemein, dass sie sich vor der Wahrheit verschließen und Schwierigkeiten mit sich selbst ausmachen. Sie fühlen zudem eine innere Leere, fühlen sich unverstanden und nicht anerkannt.

Alle Figuren haben interessante Biografien, die die Handlung vielschichtig und abwechslungsreich gestalten. Die Unterschiedlichkeit der Charaktere spiegelt sich auch in der Vielfalt der Themen wieder, die der Roman enthält. Es geht um psychische und physische Erkrankungen, um Suizid, Betrug und Affären, Homophobie, Entfremdung und Einsamkeit.
Dennoch wirkt der Roman nicht überfrachtet oder deprimierend.

Berührend sind die Szenen aus der Sicht von Vater Hans, der neben klaren Momenten immer mehr geistig verwirrt ist und selbst merkt, wie sein Gehirn ihn im Stich lässt. Indem er alte Dias mit Aufnahmen der Familie sortiert, reflektiert er die Beziehung zu seiner Frau und seinen Kindern.

Auch die persönlichen Krisen der drei Kinder bewegen, die sich bewusst oder unbewusst in Richtung Abgrund bewegen. Das Zusammenkommen in Bonn sorgt dann regelrecht für Aufatmen, wenn sie sich auf die Suche nach ihrem Vater konzentrieren, bei der Gelegenheit aber auch erkennen, dass sie ihre Probleme nicht allein bewältigen müssen.

Es ist eine bittersüße Geschichte über eine zerrüttete Familie, die durch ein Ereignis die Chance erhält, sich wieder zu finden und an ihren Beziehungen zu arbeiten. Mit seinen universellen Themen des Älterwerdens, Übernahme von Verantwortung und Selbstzweifeln hat der Roman viel Identifikationspotenzial.